Pädagogischer Lernbegriff und Hyperlernen - Überlegungen zum Raum zwischen Systematik und Chaos


Lernbegriffe und universitärer Kontext

In diesem Abschnitt geht es um die Bestimmung von zwei sich unterscheidenden pädagogischen Lernbegriffen mit Bezug auf das Hyperlernen. Unter einem 'pädagogischen Lernbegriff' soll folgendes verstanden werden: Er faßt das Lernen unter dem Gesichtspunkt seiner Ermöglichung, seiner situativen, sinnhaften Gestaltung und seiner humanen Grundlagen. Der psychologische Lernbegriff fundiert den pädagogischen, umfaßt ihn aber nicht, weil er keine Gestaltungskomponente (Intention der sinnvollen Strukturierung und Deutung) enthält. Die Theoriebildung zum pädagogischen Lernbegriff ist im Bereich der Erziehungswissenschaft angesiedelt, besonders im systematischen Bereich und in der Anthropologie des Lernens. Ein psychologischer Lernbegriff - wie er hinlänglich bekannt ist - wäre also nur Teil eines solchen pädagogischen Lernbegriffs.

Virtuelle Seminare sind insofern pädagogisch, als sie Lernen ermöglichen sollen und dabei die Situation des Studiums und die humanen und materialen Voraussetzungen und Grundlagen dieses Lernens berücksichtigen. Die Grenzen virtueller Lernmöglichkeiten liegen darin, daß die personale Komponente der Lehre an der Hochschule - wie gezeigt wurde - aus strukturellen Gründen nicht zu ersetzen ist. Es wird also immer Formen des Lernens geben müssen, die auf persönlicher Präsenz beruhen. Weiterhin gibt es eine klare Unterscheidung zwischen dem Lernen im schulischen und dem Lernen im universitären Kontext. Universitäres Lernen ist komplexer, weniger didaktisch präformiert und zudem risikoreich (man kann leicht scheitern und das Wissen selbst ist nicht gewiß, befindet sich im Progress). Allein diese Tatsachen rechtfertigen es, über den pädagogischen Begriff des Lernens an der Universität nachzudenken und einige grundlegende Unterscheidungen einzuführen.

Dozenten sind meistens von berufswegen daran gewöhnt, von einem systematischen Lernbegriff auszugehen, ohne sich darüber explizit Rechenschaft zu geben und ohne die eigene Praxis des Lernens und der Forschung zu betrachten - Wissenschaft läßt sich zwar unschwer auch als Lernprozeß interpretieren, ist aber in ihren Alltagsvollzügen und Unstetigkeiten weit weniger systematisch als gemeinhin angenommen. Wir vermuten also oft dort strenge Systematik, wo Versuch und Irrtum, Spontaneität und Intuition dominieren. Es könnte demnach für die Lehrenden - aus ihrer eigenen Praxis heraus - Gründe zum Zweifel an einer strikten Systematik des Lernens geben.

Das systematisch orientierte Nachdenken über Lehren und Lernen hat aber verständlicherweise (weil das Lehren lehrbar gemacht werden muß) in der Pädagogik eine lange Tradition. Einen systematischen Begriff pädagogisch angeregten Lernen kann man in dem Sinn begründen, daß es aller Erfahrung nach eine zweckmäßige Abfolge gibt, der das intentionale Lernen zu folgen hat: Im Rahmen einer solchen Phasenvorstellung könnte man mit Klaus Prange (1986; siehe Fußnote) von einer

  • Anschlußstufe ausgehen, auf der das schon vorhandene Wissen und Können der Lernenden zur Geltung gebracht und geklärt wird, um dann Anschlüsse für das Neue zu finden, das im Unterricht gezeigt werden soll. Dann folgt eine
  • Erweiterungsstufe, wo dieses Neue hinzukommt und mit dem schon Bekannten verknüpft wird. Darauf baut eine
  • Ergebnisstufe auf, wo der Zusammenhang zwischen Altem und Neuem thematisiert und zu einem signifikanten Ergebnis verdichtet wird, welches dann vielleicht wieder zu einer
  • neuen Anschlußstufe hinführt.

So wäre ein systematischer Begriff des pädagogisch angeregten Lernens für beliebige Themen denkbar, der sich durch die Tradition vielfältig belegen läßt.

Die pädagogische Hoffnung geht dahin, daß die systematischen und methodischen Aspekte der angeleiteten Lernbewegungen sich allmählich beim Lernenden verselbständigen und er unabhängig von bestimmten Inhalten und unabhängig vom Lehrer später aus eigenem Antrieb und eigener Methode lernen kann. Für einen systematischen Begriff des pädagogisch angeregten Lernens gibt es also gute Gründe, und es ist angemessen, Virtuellen Seminaren größtenteils einen solchen Lernbegriff zugrunde zu legen.

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Chaotische Lernstrukturen

Ein anderer, ergänzender Zugang zum virtuellen Lernen könnte ein chaotischer, unsteter Lernbegriff sein. Dieser ist jedoch nur schwer plausibel zu machen, obwohl wir oft chaotisch lernen. Zwei Beispiele sollen zur Veranschaulichung genannt werden: Im Alltag machen wir die Erfahrung, daß wir gelegentlich mit Problemen konfrontiert sind, für die wir nicht sofort einen Lösungsweg kennen und finden. In diesem Fall entwickelt sich ein spontanes Kennen-Lernen der Situation und ein spontanes Probieren, das dann möglicherweise zu verblüffenden und produktiven Lösungen führt.

Auch in entspannten, problemlosen Situationen stellt sich manchmal eine solche Form des Lernens ein: Wir können Menschen beobachten, die Bücher oder Zeitschriften von hinten lesen und solche, die an beliebigen Stellen beginnen. Andere springen im Text oder lesen sehr selektiv und wissen manchmal nicht zu sagen, weshalb sie einen bestimmten Abschnitt gelesen, andere aber ausgelassen haben. Auch bei wissenschaftlicher Lektüre lesen manche das Schlußkapitel eines Buches, greifen sich scheinbar willkürlich etwas heraus und arbeiten es durch. Von dieser fragmentarischen Erfahrung aus versuchen sie den Einstieg in ein Thema zu finden. Sie lernen also quer zu jenen Intentionen, die Pädagogen oder Autoren in systematischer Absicht bei der Darstellung und didaktischen Strukturierung ihrer Inhalte verfolgten.

Nicht selten sind solche Menschen aber besonders kreativ und erfolgreich. Wie ist das bei einer derart unsystematischen Lernform überhaupt möglich? Solche Personen lernen mit einer frei fluktuierenden oder schwebenden Aufmerksamkeit, die dazu führt, daß sich ein spontan vernetztes Lernen entwickelt, das sich gleichsam eigenständig seine Wege sucht und zu dieser Suche freigelassen werden muß. Erfinder, Computerfachleute, Wissenschaftler, aber auch Manager und politische Führungskräfte praktizieren derartige Lernstile. Daher wird die Grundidee dieses unscharfen, chaotischen und vernetzten Lernens in entspannter schwebender Aufmerksamkeit in Fortbildungsangeboten vermarktet. Auch die wissenschaftliche Arbeit scheint in ihren kreativen Anteilen eher von dieser Art zu sein.

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Konsequenzen für Virtuelle Seminare

Für die Konzipierung Virtueller Seminare folgt daraus, daß sie nicht ausschließlich den Typus des pädagogischen systematischen Lernens berücksichtigen sollten. Es ist zu beachten, daß es unterschiedliche Lerntypen gibt. Welche konkreten Folgerungen ergeben sich aus diesen Überlegungen zum Lernbegriff?

Es wäre denkbar, jede Sitzung so mit Hyperlinks zu versehen, daß der Lernende prinzipiell von jeder Lektion aus anfangen und sich dann seinen spezifischen Lernweg von einem beliebigen Punkt seines Interesses aus suchen könnte. Das Programm würde ihm dann (durch die History-Funktion und die Markierung genutzter und ungenutzter Hyperlinks) mitteilen, was er abgearbeitet hat und was er noch bearbeiten muß. So könnte in einfacher Weise das chaotische Element im Lernen berücksichtigt werden, ohne daß der Überblick und der Gesamtzusammenhang verloren ginge. Grundsätzlich sollte man allerdings die Gestaltung eines Virtuellen Seminars nach einem systematischen Lernbegriff durchführen, weil Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Wiederholbarkeit wesentliche Stützen für das Lernen sind.